Die Toten Hosen auf der Festwiese in Leipzig
Samstag, 22.08.15, Leipzig, 7:00 Uhr. Das schrille Piepen meines Weckers reißt mich aus meinem viel zu kurzen Schlaf. Egal, ich springe sofort aus meinem Jugendherbergsbett auf. Kurzer Blick raus –Sonne. Die ersten Nachrichten lassen mein Handy vibrieren: „Wer? Wann? Wo?“
So hektisch begann ein Tag selten bei mir in den letzten Wochen, aber ich denke ein jeder hier weiß, worauf man sich einlässt, wenn man zu einem Toten Hosen Konzert geht. Besonders, wenn es das größte Toten Hosen Konzert aller Zeiten ist. 70.000 Menschen sollen auf der Festwiese Platz finden. Nur um diese eine Band zu sehen. Zur groben Orientierung: Der Besucherrekord bei Rock am Ring wurde 2015 geknackt, dort waren es 90.000, beim Tourabschluss in Düsseldorf waren 45.000 Fans dabei. Das einzige Mal, dass die Toten Hosen mehr Menschen auf einem Platz erreicht haben war als sie als Vorband der Ramones in Argentinien aufgetreten sind, erzählt man sich.
70.000 und ich bin einer von ihnen, das wird eine Party. Ich springe schnell unter die viel zu warme Dusche, zieh mir mein, von Sammy Amira designtes, Toten Hosen Shirt an und torkel schlaftrunken zum Frühstück. Spätestens hier macht sich die Invasion bemerkbar. Toten Hosen Fans wohin man nur schaut. Ein älteres Seniorenpaar wirkte überfordert von der Flut Menschen in schwarzen Shirts und suchte Halt bei der jungen Familie einen Tisch weiter. „Ob irgendwas los sei?“, wollten sie wissen. Ich setzte mich zu ein paar sympathisch wirkenden Mittzwanzigern. Man nickte sich, immer noch im Halbschlaf, zu und begann Müsli mit Joghurt in den Mund zu schaufeln. Ein zerhacktes Gespräch bildete sich: „Wann fährst‘n du Richtung Halle?“ – „Ja, gleich irgendwann.“ – „Weißt du wie?“ – „Mit der 3 Richtung Sportforum.“ Ein, leicht betrunken wirkender, Herr unterbrach indem er lauthals „Es kommt die Zeit…!“, durch den Speisesaal grölte. Das wirkte wie eine Adrenalinspritze. Ein Funkeln breitete sich in den Augen meiner Mitmenschen aus, die Realität schob sich zur Seite, man sah sich schon bei dem Konzert.
Nachdem man sich mit einem „Man sieht sich!“ verabschiedet hatte begab ich mich wieder in mein Zimmer. Ich packte meine Gürteltasche, die mich auf so vielen Konzerten begleitet hat, überprüfte fünf Mal ob ich meine Karte auch wirklich eingesteckt habe und machte mich dann auf die Socken. Nachdem der Herr an der Rezeption mir den Weg zum nächsten Bankautomaten erklärt hat, wünschte er mir „Viel Spaß“ und bat mich für ihn mitzufeiern, er hätte leider keine Karte mehr bekommen.
30 Minuten später. Ich hatte zwischendurch etwas Verpflegung gekauft, und ich rede nicht nur von Bier, saß ich in der Bahn die mich zur Festwiese fuhr. Inzwischen war es wohl kurz vor 10. Die Bahn war noch tierisch leer. Es saßen lediglich ein paar Menschen drin, die mich aus den Augenwinkeln beäugten, auf meinen verwirrten Blick auf den Leipziger Straßenbahnplan beruhigte mich ein netter Herr: „Keine Angst, sie sind hier in der richtigen Tram.“ Erstkontaktaufnahme zu Leipziger Einheimischen erfolgreich. Vor dem Gelände traf mich dann der Schock….
Ein Einlass, wie nie zuvor gesehen. Ein Labyrinth aus Eisenabsperrungen. Links gewunden, rechts gewunden, unübersichtlich. Es brauchte schon etwas Zeit um die Technik dahinter zu verstehen. Ein Eingang links, links mittig, rechtsmittig, rechts. Je nachdem welchen man nimmt kommt man in eine eigene kleine Parzelle vorne. Wenn man nur wüsste, wo die Anderen sind. Ein Teil meiner Freunde steht rechts, der andere links. Jeweils schon die Zelte aufgeschlagen. Ich entscheide mich für links, da gab es frisch gezapftes Altbier, dass der Tobi eingeschleust hat. Die ersten Stammtischler waren schon da. Man begrüßte sich freudig, das Knuddeln ging los, dann wurde das erste Bier geöffnet. Man besah aus der Ferne das Gelände – es war groß, viel mehr kann man da nicht zu sagen, einfach nur groß.
Ca. 15:45, eine viertel Stunde noch bis der Einlass planmäßig beginnen sollte. Bändchen hatten wir noch keine. Zwischendurch kamen lediglich zwei Damen mit geschätzt 50 Bändchen, die sie halbherzig an ein wenig Menschen verteilten. Große Frustration bei allen Anderen. Was soll das? Es herrschte Verwirrung, leichte Panik und Verständnislosigkeit. Umso mehr Gedränge gab es als das Absperrbändchen geöffnet wurde und der Einlass begann. Die Leipziger Security schien sichtlich überfordert. Die Kontrolle wurde halbherzig und schnell abgehandelt. Die Menschen sprinteten zur ersten Welle. Ich versuchte nicht ans Asthma zu denken, der Weg war jedoch weit, sehr weit. Einlass an der ersten Welle ebenfalls chaotisch, die Security ließ durch, ohne Bändchenvergabe, man sah die Leute von einem zum nächsten Ordner laufen, wo gibt es diese Bändchen? Letztendlich weiß ich es auch nicht, aber ich hab eins bekommen, wofür gibt es Freundes-Freunde.
Erste Panik um. Durchatmen. Am Bierstand wird mir eine Cola gegen den leichten Asthmaanfall gesponsert, danach wird noch ein Bier geholt und anschließend das Gelände abgecheckt. Wie erwähnt es war groß. Das war auch schon alles Besondere. Die Getränkeausgabe funktionierte zu dem Zeitpunkt noch einigermaßen, im Laufe des Abends jedoch verschlimmerte sich das auf grausame Weise. Wer ein Bier wollte musste Glück haben oder 10 – 20 Minuten anstehen. Im hinteren Bereich gab es Essen, also für alle die Fleisch mögen. Wenn man, wie ich, Vegetarier ist, dann hatte man die Ar*chkarte gezogen. Nicht einmal Pizza wurde angeboten. Es gab eigentlich nur Wurst und Brezel, winziges Baguette zu Preisen, die man sich nicht vorstellen kann und will und Handbrot. Ich denke an dem Tag sind einige Veganer auf dem Gelände verhungert, ich hätte nicht gedacht, dass das in der heutigen Zeit noch möglich ist, jedoch komme ich auch aus einer sehr Veganer-freundlichen Stadt. Nachdem ich mir etwas mit Käse überbackenes Brot besorgt hatte ging ich zurück zum Lager vorne, Freunde suchen. Jedoch nicht bevor ich noch bei ProAsyl und Oxfam vorbei geschaut und meine Stimme abgegeben habe (das ist immerhin schon Tradition).
Einige Freunde und ich begründeten unser Lager schließlich links vor der Bühne. Die Dixis in der Nähe und entgegen der Windrichtung, ein Bierstand gleich um die Ecke und man konnte die Musik hören, das schien uns der beste Platz. Es gesellten sich immer mehr Menschen zu uns. Man traf viel zu viele Menschen (da ich die Hälfte vergessen würde, beginne ich gar nicht erst sie aufzuzählen).
Zirka eine Stunde nach Einlass betrat Schmutzki die Bühne. Drei Jungs, im Jahre 2011 gegründet, Stilistisch irgendwo zwischen Kraftklub, Postpunk und Indierock. Wir entschlossen uns jedoch unsere Stellung zu halten und Kräfte zu schonen. Nach Schmutzki betraten Bad Religion die Bühne, ein Urgestein in der Szene, aus Los Angeles eingereist, um die Hosen mal wieder als Vorband zu unterstützen. Head-Vorband war dann Kraftklub, einige aus unseren Reihen bewegten sich Richtung Bühne. Wir anderen blieben dankend sitzen, mit Kraftklub konnte ich mich noch nie so wirklich anfreunden. Ich hätte mir mal wieder die Broilers als Vorband gewünscht. In Zürich hatte das Publikum in der Sache Glück. Das Gute an dem Auftritt von Kraftklub war, dass man wusste, das die Hosen gleich beginnen.
Wir quetschten uns in den Innenraum, der war gerappelt voll, angeblich wurden 2.000 Bändchen verteilt. Das Licht ging aus und die ersten Töne des neuen Bonny und Clyde Intros ertönten. An dieser Stelle mal mega Respekt! Ich habe noch nie ein so gutes Intro gesehen, es putscht die Stimmung von 0 auf 100. Das Publikum denkt sich das Gleiche und beginnt mit dem Pogo. 2 Minuten und der Schweiß rinnt mir von der Stirn, ich blicke in glückliche Gesichter. Von meiner Position links außen bin ich ohne mich auch nur ein Quäntchen zu bewegen ins gute Mittelfeld gekommen. Liebeslied, Auswärtsspiel, Altes Fieber. Ich lasse mich etwas zurück fallen, normalerweise ist die Menge dort ruhiger, aber nicht heute. Es war eigentlich egal wo man stand. Sobald man drin war, war man drin. Das Lied bot die erste Gelegenheit sich etwas auszuruhen, bis der Refrain kommt, denn immer wieder… Anschließend packten die Hosen mal wieder einen schönen Klassiker aus – Halbstark, die Menge tobte, dem Herrn Frege war es wohl nicht genug: „Leute, wir sind jetzt sicher schon seit einer viertel Stunde hier, da ist es höchste Zeit, dass man sich gegenseitig kennen gelernt hat, also Stock aus dem Arsch, durchdreh’n, spring, schreien, alles auf einander, okay? Seid ihr bereit? 1…2…3…4!“ Danach einer meiner Höhepunkte eines jeden Konzertes, wie jedes Mal. Auf meiner Lieblingslieder-Liste steht „Das ist der Moment“ ganz weit oben, warum auch immer. Danach geht das erste Raunen durchs Publikum – Alles was war. Begeistert schienen nur wenige zu sein, hat Campinos Stimme ne kleine Pause gebraucht? Danach Fliegen… Beim Schreiben fragt man sich wirklich, wo die ganze Zeit geblieben ist. Bis hier hin wirkte es live nur wie wenige Sekunden. Das Publikum bedankte sich für „Pushed Again“ mit mehreren Bengalos. Ich hätte gedacht es wäre in der ersten Welle dieses mal zu eng dafür, aber das Publikum hat ganz brav aufeinander aufgepasst, nichts passiert. Die Argentinier werden begrüßt, Breitis Aufgabe, danach ein Lied für das sich die Anwesenheit schon gelohnt hat, eine Cover von Iggy Pops Klassiker „I am the Passenger“.
Nur zu Besuch, Campino erzählt von einer „Tante“, die jedes Jahr aus Leipzig Bücherpackete zu Weihnachten schickte, für ihn und seine Geschwister. Damals hätte sein Vater jahrelang um einen Besucherpass kämpfen müssen und heute spiele er in dieser Stadt, seine Eltern wären stolz auf ihn, wo auch immer sie gerade seien. Unterstützt wurden sie vom Düsseldorfer Sinfonieorchester, mit dem sie schon in der Tonhalle zu Düsseldorf aufgetreten waren. Anschließend „Unsterblich“ mit eben jener Unterstützung, so wunderbar habe ich dieses Lied noch nie hören dürfen. „Paradies“, meine Kehle brauchte Befeuchtung, ich stand am Bierstand. Jemand hat es zu Campino auf die Bühne geschafft, er schwenkt eine Flagge, möchte etwas sagen, Campino bedeutet ihn zu springen. Will ihn schon den finalen Schubser geben. „Für Wölli…“ ruft besagter Herr ins Mikrofon, Campino stockt. „Für Wölli, nächste Woche in Berlin ins Gleißdreieck! Für alle Hosen Fans“, die Menge tobt. „Okay, das war ein sehr ordentlicher Einsatz, entschuldige, dass ich dich abgebrochen hab.“ Entgegnet Campino, lässt danach noch ein Selfie des Herren über sich ergehen und schiebt ihn dann ins Publikum zurück. „Was für ein Depp! Man springt doch nicht mit den Füßen zuerst! Wahnsinn“, Stagediving Unterricht mit Campino.
Campino erzählt von Wöllis Krebs und dass es dem Herrn nicht gut geht, macht das traditionelle Video, mit der kleinen Handkamera, dass sie Wölli zukommen lassen, damit dieser Kraft tanken kann. Danach hörte ich die ersten Töne von „Steh auf, wenn du am Boden bist“. „Und natürlich, alle die heute Platz nehmen tun dies für Wölli“, Campis Stimme klingt schwerer als sonst. Die Fahnenschwenker tun ihren verdammten Job, es liegt eine komische Stimmung in der Luft. Irgendwo zwischen Stimmung und Mitgefühl. Die Leute geben alles, singen so laut mit wie möglich. „Komm und seh‘ nach vorn!“, das Lied unterbricht, das Publikum guckt verwirrt umher. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dieses Lied gespielt hätte, so glücklich wie ich heute bin, denn ich hab gestern Nacht mit Wölli telefoniert, ich hab ihm das alles erzählt und dieser Vollidiot ist heut morgen ins Auto gestiegen und hat gesagt: „Ich komm zu euch.“ Wölli betritt die Bühne. Das Publikum rastet aus. „Wölli, Wölli, Wölli!“, ruft es von überall her. Als das Lied angefangen hat, wären Wölli die Tränen in die Augen gelaufen, sagt er ins Mikro. Eine Sache möchte er unbedingt loswerden: „Es sind nicht die Arschlöcher mit den weißen Kitteln, ihr hier und meine Freunde hier über dreißig Jahre lang, ihr gebt mir Energie und Power UND ICH WERDE ES SCHAFFEN!“ Der letzte Refrain wird zusammen gesungen. Um mich herum sehe ich ein paar Menschen ein Tränchen unterdrücken.
Mit Bier bewaffnet geht es zurück in den Innenraum. „Mal sind wir Helden und mal Diebe, angeklagt wegen Hochverrat.“, ich werde von Wildfremden nach einem Schluck Bier gefragt, ich teile gerne. Anschließend das erste Statement gegen die rechten Idioten, die immer noch zu tausenden in diesem Land umherschweifen. „Europa“, gerade als ich an der Festwiese angekommen war hatte ich die Nachricht reinbekommen, dass ein paar Dutzend Boote auf dem Mittelmeer in Seenot geraten waren.
„Hier kommt Alex“, das Bier war leer, ich war irgendwo vorne, Campino bricht nicht mit seiner Tradition und springt mir wie immer mitten in die Fresse, normalerweise versuche ich Land zu gewinnen, diesmal unmöglich, geschätzt 70 Leute fallen hin, man kommt nicht mehr hoch, Arme sind verknotet, Beine sind verknotet, Einzelne schaffen es sich aufzuraffen, am Ende steht ein Jeder wieder. Wünsch DIR was, Alles aus Liebe, Jägermeister.
Danach der erste Abschied. „Schönen Gruß…“ Wer es glaubt wird seelig, auf der B-Stage geht es weiter. „Wir haben uns noch gar nicht richtig vorgestellt, wir sind die Jungs von der Opel-Gang!“ Leicht vorhersehbar. Danach ein Lied das ich nie zuvor live gehört habe. „Schön sein“, ich sah mir alles genau auf der Leinwand an, die B-Stage war viel zu weit weg. Das letzte Lied auf der B-Stage wurde kräftig gefeiert. Campino hielt zu „Hang On Sloopy“ seinen Bengalo in die Luft und turnte auf einem Zeltdach herum.
Mit Power ging es von der Hauptbühne weiter. „Should I stay or should I go“, im Original von The Clash, einer meiner absoluten Lieblingsbands brachte das Publikum so richtig zum Tanzen. War auch bitter nötig, denn danach wurde die Stimmung mit „Alles wird vorüber gehen“ und „Tage wie diese“ wieder etwas gekippt. Pause.
„Seid ihr bereit für die zweite Halbzeit?“, begann Campino den letzten Akt. Wieder Verstärkung an den klassischen Instrumenten. „Dieses hier haben wir geschrieben um 1990 rum, es hat von seiner Aktualität LEIDER nichts verloren. Willkommen in Deutschland!“ Was sich so viele gewünscht haben geht in Erfüllung. Einige Freunde von mir haben auf dem Konzert Zettel verteilt mit dem „Refugees Welcome“ Logo mit der Bitte diese bei dem Lied hochzuhalten, dies geschah an dieser Stelle. Es gab ein wunderschönes Bild ab und ein super Statement. Danke dafür, an alle die das organisiert haben und alle die fleißig Flagge (oder halt Schild) gezeigt haben! Ihr seid super! „Nazis raus“-Rufe durchdringen die Körper der Zuschauer, Gänsehaut.
Danach wird die trinkfeste Erweiterung der Band gefordert. Die Geige beginnt mit ihren treibenden Tönen – „Das Mädchen aus Rottweil“ in der wohl besten Liveinterpretation, die ich je hören durfte. Abgerundet wurde mit „Freunde“. Leichte Depression machte sich breit, denn jeder wusste was nun kommt. „You’ll never walk alone“, auf der einen Seite verdrückt man eine Träne, auf der anderen freut man sich endlich heraus zu kommen aus der lebendig-Sauna.
Alles in Allem war es ein gelungener Abend, trotz anfänglicher Angst um Campinos Stimme, der schrecklichen Organisation der örtlichen Security und dem Chaos auf dem Rückweg. Danke an alle die dort waren und diese gigantische Party ermöglicht haben.
Haut rein,
eure SiDDy Ritchie
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